Samstag, 30. November 2013

Erster Rundbrief

Hier ein offizieller Rundbrief, der das erste Trimester meines Jahres zusammenfassen soll. Viel Spaß beim lesen.

Nicht jeder Tag im Büro des Centre 72 birgt eine spannendes Ereignis in sich. Häufig sind es sogar nur Kleiderspenden und Anrufe, die die Zeit am Empfang ausfüllen. An manchen Tagen geschehen aber auch die schönen sinngebenden Momente unserer karitativen Arbeit...

Seit 3 Monaten lebe ich nun bei einer überaus freundlichen Gastfamilie in Colombes, mit dem Zug 11 Minuten von Paris entfernt. Meine Arbeitsstelle ist das Centre 72 in Bois-Colombes, ein gemeinnütziges Zentrum, welches neben einer protestantischen Kirche viele wöchentliche Freizeitangebote (u.a. Yoga, Gitarre..), monatliche Ereignisse und auch eine karitative Arbeit beherbergt.
Meine Woche beginnt mit dem Empfang von Obdachlosen in unserem Foyer. Wir bieten Kaffee und Sandwichs an, geben Kleiderspenden aus, kommen ins Gespräch und spielen häufig Scrabble. Weiter in der Woche geht es mit der Gartenarbeit und an mehreren Tagen Empfangsarbeit im Büro. Die Woche endet dann am Sonntag mit meinem regelmäßigen Musikdienst im Gottesdienst oder dem monatlichen Abenteuertag mit den Pfadfindern.
Dazwischen: Besprechungen, Bestuhlungen und Vorbereitungen kleinerer und größerer Veranstaltungen. Als überall bekannte Veranstaltung in Bois-Colombes und Umgebung gilt die beliebte Braderie ( = Verkauf zu Spottpreisen). Ein Großereignis, das nur durch die beeindruckende Leistung der ehrenamtlichen Helfern zustande gebracht werden kann. 1-2 Tage Aufbau, 2 Tage Verkauf, Abbau - und das alle zwei Monate. Täglich erreichen uns Säcke mit Kleider-, Bücher-, Kleinmöbel-, und Spielwarenspenden, die von unbezahlten Kräften stundenlang sortiert und gelagert werden. Aus diesen Kleiderspenden bedienen wir neben den Klienten am Montag auch zwei mal die Woche Arbeitslose. Der Großteil wird aber für die Braderien aufgehoben, an denen ein Hemd bspw. nur 1€ kostet und deren Erlös ebenfalls einen wohltätigem Zweck zufällt. In der Boutique bekommt man auch schon mal einen Anzug für 10€, der neu im Geschäft 500€ gekostet hätte. Dieses Beispiel zeigt auf einfache Weise die große soziale Ungleichheit im Großraum Paris auf. Sei es der BMW X6 oder sogar ein Taxi, das vor dem Centre vorfährt und wertvolle, teils neue Kleiderspenden abliefert, die später im Hackendretter zum neuen Besitzer gebracht werden, seien es die Heimatlosen, die neben Pariser Prunkpalästen oder am Ufer der Seine ihr Notquartier errichten – hier klafft die soziale Schere weiter auseinander als die Vorstellungen der Großen Koalition.
Sich beim Unkraut jäten oder Kleider falten als Teil einer Wohltätigkeitskette zu verstehen ist gar nicht immer so einfach. Manchmal vergingen Tage im Büro, an denen nichts des Protokolls würdig gewesen ist und ich mich fragte, was ich hier eigentlich mache.
Als eines Nachmittags Monsieur Martin unser Büro betrat, sollte sich meine Einstellung zu unserer Präsenz aber fundamental verändern. Am besagten Nachmittag habe ich aufgrund meiner mangelnden Sprachkenntnisse noch den Empfang mit einer Dame zusammen verbracht, als ein völlig aufgelöster Mann sich vor unseren Schreibtisch setzt. Er gibt sich als Monsieur Martin aus, der sich als Straßenmusiker in meiner Stadt das Geld verdiente und ruhelos berichtet, wie ihm seine beiden Gitarren gestohlen wurden und ihm somit sein einziges Arbeitsmittel verloren gegangen ist. Nicht zuletzt seine gesungene Kostprobe einer seiner Komposition lässt uns dem Betroffenem Glauben schenken und wir schenken M. Martin ein Ohr, als er uns die mangelnde Obdachlosenhilfe in den Vororten schildert. Als wir dem Unglücksmenschen Pflegemittel und eine große Jacke aus der Kleiderkammer anbieten können, probiert M. Martin diese sofort an und scheint sich darin sehr wohl zu fühlen. Er ist zutiefst dankbar und sichtlich erfreut über dieses Geschenk. Wir sind gerührt. Nicht immer haben wir es bei unserer Arbeit mit netten oder dankbaren Menschen zu tun. Dieses mal aber hat sich gezeigt, warum es sich lohnen kann stundenlang ohne ein Merci Kleider zu sortieren oder einfach nur präsent zu sein. In solchen Momenten ergibt der ganze Aufwand einen Sinn und die Stunden der größten Langeweile oder harten Arbeit entpuppen sich als Standfüße für den Dienst am Nächsten.
Tage später sehe ich M. Martin zitternd auf einer Bank in Colombes. Mit Mantel, ohne Gitarre.
„Keine Dusche, kein Essen, kein Schlafplatz.“, hatte M. Martin uns bei seinem Besuch erzählt.
„Können Sie nicht bei einer Assoziation in Colombes eine Mahlzeit erhalten?“.
„Da wartet man 2 Stunden auf ein kleines Stück Baguette und Reis!“, hatte der Heimatlose meiner Kollegin aufgewühlt zur Antwort gegeben.
Menschen wie M. Martin sieht man stündlich. Bettelnd vor Kirchen, in Zügen, an Metro Stationen, mit ihren Kindern auf der Straße. Ich hatte mir angewöhnt, diesen vielen Einzelschicksalen keine Beachtung zu schenken. Das Schicksal von M. Martin hat mir aber aufgezeigt, was es bedeutet obdachlos zu sein. Auch wenn in Frankreich ein Recht auf Wohnung und das Recht auf Arbeitslosengeld besteht, fehlt es praktisch im Großraum Paris überall an Kapazitäten um den Flüchtlingsanstürmen und Arbeitslosenmassen stand zu halten. Seit M. Martin weiß ich, dass es sich lohnt, für jeden Einzelnen einen Dienst gegen die Armut zu tätigen. Auch wenn die Armut dadurch nie gestoppt werden kann, so ist es dennoch unabdingbar, den Versuch zu wagen, so viele Menschen wie möglich zu sättigen. Viele Assoziation und ehrenamtliche Helfer haben sich dies im Großraum Paris zum Ziel genommen. Eine dieser Assoziation nennt sich „Restos du coeur“, eine Art Tafel, bei der ich seit Ende November mitarbeite. Morgens werden dort Lebensmittel ausgegeben, abends fährt ein Transporter den Bahnhof der Stadt an und wir freiwilligen schmieren Sandwichs und schenken Suppe und Getränke aus. Diese Arbeit macht mir sehr viel Spaß und es ist ein tolles Gefühl auf so unmittelbare Weise den Bedürftigen helfen zu können.

Neben dem Schatten der Armut, der über Paris und seinen Vororten liegt, habe ich aber ansonsten natürlich nicht nur Trauer zu berichten. Ich habe bereits einem großem Filmkomponisten die Hand geschüttelt, allerhand Konzerte und Museen besucht und kann von Paris in dieser Hinsicht nur schwärmen. Ich habe in Paris eine baptistische Gemeinde gefunden, in der auch ersatzweise als Pianist aushelfe und habe dort Bekanntschaften mit neuen Freunden aus Texas, Brasilien und Irland gemacht. Die Diskussionen über die verschiedenen Kulturen (besonders Deutschland fällt leider meistens aus dem Rahmen) ist immer ein Riesenspaß. Mit den zwei weiteren deutschen Freiwilligen aus dem Großraum Paris Niklas und Christoph setzen wir uns in einen Park, fahren mit der Metro und beobachten das Treiben der Touristen, während wir uns über den Alltag der letzten Woche austauschen und die französische Lebensart kommentieren. Bis auf die Bierpreise kann man sich hier aber über nichts beklagen.

Ich danke Euch allen für Eure Unterstützung und Ermöglichung dieses bisher schon großartigen Erfahrung,

Euer Gabriel


Mittwoch, 13. November 2013

5. fête de la soupe

Letzten Samstag fand das 5. alljährliche Suppenfest im Centre statt. Sei es die Gemeinschaftspolitik der Vororte oder einfach die Essensmentalität der Franzosen - so etwas habe ich noch nie erlebt! Das Prinzip ist einfach: Jeder der will, bringt eine selbst gekochte Suppe mit, die er über aufgebauten Gaskochern im Innenhof erwärmen kann. Diese schenkt er dann an alle aus, die einmalig für wenige Euros eine Tasse am Eingang gekauft haben. Ein einzigartiges Nachbarschaftsfest. Über 300 Leute aus Bois-Colombes und den angrenzenden Städten sind zum Suppen probieren her gekommen und haben bei Musik, Lagerfeuer und warmer Suppe das Gespräch mit Nachbarn und Freunden gesucht, Rezepte ausgetauscht (Kürbis-Roquefort-Suppe war eindeutig die beste) und das anschließende Musikprogramm im Haus genossen. Dabei wurden wir sogar von den Rathäusern zwei Städte mit aufgebauten Zelten und verliehenen Bänken kostenlos unterstützt. Es mag an der geringeren Einwohnerzahl liegen oder dem noch geringeren Unterhaltungsangebot, aber das Centre ist im ganzen Umkreis als Freizeitort bekannt und wir arbeiten sehr gut mit den Bürgermeistern zusammen. Auch ich bin bei diesem Ereignis natürlich nicht untätig gewesen. Wie so oft bin ich zunächst dafür verantwortlich, beim Rathaus unsere Plakate abzuholen und sie dann möglichst vielen Läden aufzuhängen, dabei immer wieder den gleichen Satz abspulend "Bonjour. Est-ce que je peux accrocher des affiches, s'il vous plaît?". Nach einer voherigen réunion (= Versammlung [in Frankreich muss alles ausführlich besprochen werden]), empfange ich am Vortag des Ereignisses die Arbeiter, die das gestiftete Zelt mitbringen und erkläre ihnen wo es aufgebaut werden soll und arbeite dann schließlich mit dem Komitee des Centre insgesamt 14 Stunden am Tag des Ereignisses an der Vor- und Nachbereitung sowie dem Ausschank der Suppen und dem Fotomachen. Für eine völlig unkommerzielle Assoziation stellt das Centre wirklich beeindruckende Spektakel und gemeinnützige Aktionen (bspw. Braderie) auf die Beine und ich bin froh, an solchen Tagen mit einer Vielzahl von ehrenamtlichen Helfern rechnen zu können.