Hier ein offizieller Rundbrief, der das erste Trimester meines Jahres zusammenfassen soll. Viel Spaß beim lesen.
Nicht jeder Tag im Büro des Centre 72
birgt eine spannendes Ereignis in sich. Häufig sind es sogar nur
Kleiderspenden und Anrufe, die die Zeit am Empfang ausfüllen. An
manchen Tagen geschehen aber auch die schönen sinngebenden Momente
unserer karitativen Arbeit...
Seit 3 Monaten lebe ich nun bei einer
überaus freundlichen Gastfamilie in Colombes, mit dem Zug 11 Minuten
von Paris entfernt. Meine Arbeitsstelle ist das Centre 72 in
Bois-Colombes, ein gemeinnütziges Zentrum, welches neben einer
protestantischen Kirche viele wöchentliche Freizeitangebote (u.a.
Yoga, Gitarre..), monatliche Ereignisse und auch eine karitative
Arbeit beherbergt.
Meine Woche beginnt mit dem Empfang von
Obdachlosen in unserem Foyer. Wir bieten Kaffee und Sandwichs an,
geben Kleiderspenden aus, kommen ins Gespräch und spielen häufig
Scrabble. Weiter in der Woche geht es mit der Gartenarbeit und an
mehreren Tagen Empfangsarbeit im Büro. Die Woche endet dann am
Sonntag mit meinem regelmäßigen Musikdienst im Gottesdienst oder
dem monatlichen Abenteuertag mit den Pfadfindern.
Dazwischen: Besprechungen, Bestuhlungen
und Vorbereitungen kleinerer und größerer Veranstaltungen. Als
überall bekannte Veranstaltung in Bois-Colombes und Umgebung gilt
die beliebte Braderie ( = Verkauf zu Spottpreisen). Ein Großereignis,
das nur durch die beeindruckende Leistung der ehrenamtlichen Helfern
zustande gebracht werden kann. 1-2 Tage Aufbau, 2 Tage Verkauf, Abbau
- und das alle zwei Monate. Täglich erreichen uns Säcke mit
Kleider-, Bücher-, Kleinmöbel-, und Spielwarenspenden, die von
unbezahlten Kräften stundenlang sortiert und gelagert werden. Aus
diesen Kleiderspenden bedienen wir neben den Klienten am Montag auch
zwei mal die Woche Arbeitslose. Der Großteil wird aber für die
Braderien aufgehoben, an denen ein Hemd bspw. nur 1€ kostet und
deren Erlös ebenfalls einen wohltätigem Zweck zufällt. In der
Boutique bekommt man auch schon mal einen Anzug für 10€, der neu
im Geschäft 500€ gekostet hätte. Dieses Beispiel zeigt auf
einfache Weise die große soziale Ungleichheit im Großraum Paris
auf. Sei es der BMW X6 oder sogar ein Taxi, das vor dem Centre
vorfährt und wertvolle, teils neue Kleiderspenden abliefert, die
später im Hackendretter zum neuen Besitzer gebracht werden, seien es
die Heimatlosen, die neben Pariser Prunkpalästen oder am Ufer der
Seine ihr Notquartier errichten – hier klafft die soziale Schere
weiter auseinander als die Vorstellungen der Großen Koalition.
Sich beim Unkraut jäten oder Kleider
falten als Teil einer Wohltätigkeitskette zu verstehen ist gar nicht
immer so einfach. Manchmal vergingen Tage im Büro, an denen nichts
des Protokolls würdig gewesen ist und ich mich fragte, was ich hier
eigentlich mache.
Als eines Nachmittags Monsieur Martin
unser Büro betrat, sollte sich meine Einstellung zu unserer Präsenz
aber fundamental verändern. Am besagten Nachmittag habe ich aufgrund
meiner mangelnden Sprachkenntnisse noch den Empfang mit einer Dame
zusammen verbracht, als ein völlig aufgelöster Mann sich vor
unseren Schreibtisch setzt. Er gibt sich als Monsieur Martin aus, der
sich als Straßenmusiker in meiner Stadt das Geld verdiente und
ruhelos berichtet, wie ihm seine beiden Gitarren gestohlen wurden und
ihm somit sein einziges Arbeitsmittel verloren gegangen ist. Nicht
zuletzt seine gesungene Kostprobe einer seiner Komposition lässt uns
dem Betroffenem Glauben schenken und wir schenken M. Martin ein Ohr,
als er uns die mangelnde Obdachlosenhilfe in den Vororten schildert.
Als wir dem Unglücksmenschen Pflegemittel und eine große Jacke aus
der Kleiderkammer anbieten können, probiert M. Martin diese sofort
an und scheint sich darin sehr wohl zu fühlen. Er ist zutiefst
dankbar und sichtlich erfreut über dieses Geschenk. Wir sind
gerührt. Nicht immer haben wir es bei unserer Arbeit mit netten oder
dankbaren Menschen zu tun. Dieses mal aber hat sich gezeigt, warum es
sich lohnen kann stundenlang ohne ein Merci Kleider zu sortieren oder
einfach nur präsent zu sein. In solchen Momenten ergibt der ganze
Aufwand einen Sinn und die Stunden der größten Langeweile oder
harten Arbeit entpuppen sich als Standfüße für den Dienst am
Nächsten.
Tage später sehe ich M. Martin
zitternd auf einer Bank in Colombes. Mit Mantel, ohne Gitarre.
„Keine Dusche, kein Essen, kein
Schlafplatz.“, hatte M. Martin uns bei seinem Besuch erzählt.
„Können Sie nicht bei einer
Assoziation in Colombes eine Mahlzeit erhalten?“.
„Da wartet man 2 Stunden auf ein
kleines Stück Baguette und Reis!“, hatte der Heimatlose meiner
Kollegin aufgewühlt zur Antwort gegeben.
Menschen wie M. Martin sieht man
stündlich. Bettelnd vor Kirchen, in Zügen, an Metro Stationen, mit
ihren Kindern auf der Straße. Ich hatte mir angewöhnt, diesen
vielen Einzelschicksalen keine Beachtung zu schenken. Das Schicksal
von M. Martin hat mir aber aufgezeigt, was es bedeutet obdachlos zu
sein. Auch wenn in Frankreich ein Recht auf Wohnung und das Recht auf
Arbeitslosengeld besteht, fehlt es praktisch im Großraum Paris
überall an Kapazitäten um den Flüchtlingsanstürmen und
Arbeitslosenmassen stand zu halten. Seit M. Martin weiß ich, dass es
sich lohnt, für jeden Einzelnen einen Dienst gegen die Armut zu
tätigen. Auch wenn die Armut dadurch nie gestoppt werden kann, so
ist es dennoch unabdingbar, den Versuch zu wagen, so viele Menschen
wie möglich zu sättigen. Viele Assoziation und ehrenamtliche Helfer
haben sich dies im Großraum Paris zum Ziel genommen. Eine dieser
Assoziation nennt sich „Restos du coeur“, eine Art Tafel, bei der
ich seit Ende November mitarbeite. Morgens werden dort Lebensmittel
ausgegeben, abends fährt ein Transporter den Bahnhof der Stadt an
und wir freiwilligen schmieren Sandwichs und schenken Suppe und
Getränke aus. Diese Arbeit macht mir sehr viel Spaß und es ist ein
tolles Gefühl auf so unmittelbare Weise den Bedürftigen helfen zu
können.
Neben dem Schatten der Armut, der über
Paris und seinen Vororten liegt, habe ich aber ansonsten natürlich
nicht nur Trauer zu berichten. Ich habe bereits einem großem
Filmkomponisten die Hand geschüttelt, allerhand Konzerte und Museen
besucht und kann von Paris in dieser Hinsicht nur schwärmen. Ich
habe in Paris eine baptistische Gemeinde gefunden, in der auch
ersatzweise als Pianist aushelfe und habe dort Bekanntschaften mit
neuen Freunden aus Texas, Brasilien und Irland gemacht. Die
Diskussionen über die verschiedenen Kulturen (besonders Deutschland
fällt leider meistens aus dem Rahmen) ist immer ein Riesenspaß. Mit
den zwei weiteren deutschen Freiwilligen aus dem Großraum Paris
Niklas und Christoph setzen wir uns in einen Park, fahren mit der
Metro und beobachten das Treiben der Touristen, während wir uns über
den Alltag der letzten Woche austauschen und die französische
Lebensart kommentieren. Bis auf die Bierpreise kann man sich hier
aber über nichts beklagen.
Ich danke Euch allen für Eure
Unterstützung und Ermöglichung dieses bisher schon großartigen
Erfahrung,
Euer Gabriel
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