Dienstag, 20. Mai 2014

Hauptstadtleben. 3. Rundbrief

Ich bin als Freiwilliger in ein westliches Nachbarland gegangen, in welchem ich eigentlich ähnliche Verhältnisse von Lebensstandard und Wirtschaft vermutet hätte, wie sie in Deutschland vorzufinden sind. Wieder zeigt sich aber einmal, dass Deutscher zu sein, ein Privileg und nicht zuletzt ein Ideal für viele Ausländer ist. In diesem Rundbrief möchte ich beispielhaft Defizite aus verschiedenen Bereichen des französischen insbesondere des Hauptstadtlebens vorstellen.
Angefangen mit der Politik. Am 23. und 30. März finden in ganz Frankreich Kommunalwahlen statt und alles ändert sich. Wie immer. Weil das Volk nicht vollkommen zufrieden mit den Bürgermeistern, besonders aber mit Hollande ist, verpassen sie ihm eine rote Karte und wählen von links auf rechts. Die Franzosen lieben die Abwechslung. In meiner Stadt Colombes ist eine Politikerin zurück ins Bürgermeisteramt gekommen, die eine Periode zuvor wegen Korruption abgewählt worden ist. Den Barabbas zu forden zeigte aber tatsächlich auf nationaler Ebene einen großen Effekt. So tritt der linke Premier Minister zurück und Manuel Valls, ein ambitionierter Mann der Rechten wird von Hollande ins Amt geholt. Dieser verspricht nun endlich konkret zu werden und mit großen Sparplänen das Land aus dem Defizit zu holen. An dieser Stelle ist mir erst bewusst geworden, das Frankreich noch in der Krise steckt. Das ist aber auch kein Wunder bei 35 Stundenwochen und Rente ab 62. Reguliert werden die Schulden durch zu enorme Unternehmens- und Reichensteuer. Letztere hat mit ihrem Anstieg auf 75% dann eine großere Abwanderung der Reichen ausgelöst. Mit 10,5% ist die Arbeitslosigkeit doppelt so hoch wie in Deutschland, bei den Jugendlichen ist sogar jeder 4. ohne Arbeit. Viele französische Studenten versuchen daher in London ihr Glück. Das Schulleben der französischen Jugend gestaltet sich aber auch deutlich schwieriger als in Deutschland. Es gibt in der Oberstufe keine Klausuren, sondern immer wieder kurzfristig angesagte Tests. Was zählt sind allerdings die alles entscheidenden Schlussprüfungen, die in jedem (!) Fach gestellt werden (wenn auch unterschiedlich bewertet). Fächer abwählen gibt’s nicht. Eine Bekannte hat in einer Woche 6 Schlussprüfungen und die anderen drumherum, während gleichzeitig sogar noch Unterricht stattfindet. Um zur Uni angenommen zu werden, muss man ein Bac + 3 oder Bac + 5 (Abitur mit Qualifizierung zum Bachelor/Master) vorweisen und dennoch eine Aufnahmeprüfung machen. Unterricht findet jeden Tag bis in den Nachmittag statt und auch der Samstag morgen kann ein Schultag sein.
Während Deutschland auf Platz 5 des Lebensstandards (nach Human Development Index) ist, befindet sich Frankreich auf Platz 20! Die Immobilienpreise v.a. in Paris sind eine Katastrophe und verringern die Konsumbereitschaft und den daraus folgenden wirtschaftlichen Auftrieb immer mehr. Während ein 9m² Zimmer in Paris im 6.Stock ohne Fahrstuhl mit Küchenzeile und Toilette auf dem Gang 300€ kostet, ernsthafte Wohnung für 2 Personen ab 1500€ + 100€ Parkplatzgebühren zu haben sind, die Einkäufe und Dienstleistungen manchmal das doppelte als in Deutschland kosten, kann man sich in Deutschland hingegen viel für sein Geld erlauben. Deutschland gilt in Frankreich aber auch als DAS Vorbild von Politik und hat ein unglaubliches Ansehen in wirtschaftlicher Hinsicht. Hier in der Region ist das Leben noch nicht einmal schön. Um an schöne Felder und Flüsse zu kommen, muss man einen Tagesausflug mit der Bahn einplanen, in der Umgebung ist neben Schloss und Kultur viel zu viel verbaut. Die Nähe zur Ruhr fehlte mir in den letzten Monaten besonders, aber dafür bin ich in einer halben Stunde per Rad am Arc de Triomphe und per Fuß in 10 Minuten an der Seine (Vorortseite).  In Paris lebt man zum arbeiten, nicht zum genießen. Der RER B beispielsweise; ein Schrecken der Pariser. Die mitunter dreißigjahre alten Züge durchfahren von Nord nach Süd die ganze Region, inklusive zweier Flughäfen. 860 0000 Fahrgäste nehmen täglich 528 Züge der Linie in Anspruch um teilweise von Zone 5 bis ins ins echte Paris zu kommen. Wenn irgendwo im Netz eine Bahn bremst, bleiben alle anderen auch still. Wenn ein Bahnfahrer erkrankt, fällt die Bahn aus. Und auch sonst führen Streiks, Bauarbeiten und Unfälle auf den Gleisen zu vielen Streichungen der Züge. Morgens in der Bahn noch einmal schlafen ist nicht. Stattdessen ist langes Stehen zwischen den Massen angesagt und wer davon nicht genug hat, darf sich auch noch über einen breitgrinsenden Akkordeonspieler freuen, der dir gerade recht kommt um dir die letzte Morgenruhe aus dem Kopf zu treiben. In Paris endlich angekommen, darf man dann in dem absoluten Lieblingsort der Pariser um- oder bestenfalls aussteigen; Station Chatelet Les Halles. Das sind Gänge über Gänge, Rollbänder, Werbeplakate und Treppen. Man verbringt bis zu 10 Minuten in dem Keller ohne einmal das Licht der Stadt erblickt zu haben. Die immense Station liegt im wirklichen Herzen von Paris (1.Arrondissement) unter dem historischen Marktplatz, welcher in einem Jahrzehntprojekt zum neuen Einkaufszentrum und Mittelpunkt der Stadt regeneriert wird. Chatelet Les Halles wird täglich schätzungsweise von 750 000 Passagieren frequentiert und ist damit so häufig besucht wie der Berliner -  und Hamburgerbahnhof zusammen. Hauptstadtleben. 2,2 Millionen Einwohner teilen sich mit 10, 4 Einwohnern im Großraum und jährlichen 76 Millionen Touristen (Tourismusziel Nr 1 weltweit) ein Paris von 105km² Fläche. Kein Wunder, dass da kein Pariser vor die Haustür gehen mag. Pariser kennen ihr Quartier bestens, aber nichts darüber hinaus. Daher überleben hier auch noch die kleinen Supermärkte um die Ecke. Für die großen Megamärkte (à la Real), müsste man Paris verlassen um über die Autobahn aufs Land zu kommen. Die Autobahn zu überqueren würde ein Pariser aber nie tun, außer um mit seinen ganzen Nachbarn pünktlich zum Beginn der Sommerferien im Schritttempo ans Meer zu fahren. Denn die Autobahn, der Boulevard Périphérique, ist die perfekte Grenze zwischen Paris "intra-muros " und dem Möchtegern Anhang "extra-muros"  bzw. Banlieue. Auf der „Périph“ verkehren täglich 1,1 Millionen Autos auf einer Strecke von 35km (zum Vergleich: auf der meistbefahrensten  Autobahn im Ruhrgebiet,  der A40, 103km Länge, fahren täglich 120 000 Autos). Das ist doch gar nicht möglich, werden sich vielleicht einige Denken. Ist es auch nicht. Am Wochenende des 15. März erreichte der Smogpegel hier in Paris ein derartiges Höchstmaß, dass die Regierung abwechselndes Fahrverbot und kostenlose Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel erlassen hat. Von letzterem haben wir natürlich profitiert auch wenn wir uns lieber auf dem Land oder Zuhause hätten aufhalten sollen. Denn die Anzahl der Feinstaubpartikel betrug schon ein vierfaches der Norm. 
Über die Armut habe ich schon ein wenig berichtet. Die Situation in Deutschland ist ein Luxus. Mein Kollege Niklas (in einer Schule für geflüchtete Jugendliche) erzählt, dass die Jugendlichen von Deutschen erwarten, dass jeder reich sei und ein Haus habe. Manche lernen sogar Deutsch um eines Tages in diesem "Paradies" leben zu können. In Paris leben wirklich viele Leute auf der Straße, das Klientel welches uns im Centre besucht, hat meist ein kleines Zimmer oder eine kleine Wohnung. Ich frage mich oft, welches das beste Konzept für uns sei, um den Bedürftigen auf eine würdige und hilfreiche Art zu helfen. In Paris gibt es eine evangelische Mission, die ein kostenloses Frühstück und Duschen für Obdachlose anbietet, nachdem sie eine Andacht gehalten haben. Ich finde dies eine tolle Missionierung, in Betrachtung der Anzahl der hilfsbedürftigen Muslime jedoch keine Lösung. Resto du Coeur hat genug genug materielle und humane Ressourcen um für 1-2 Tage den Hunger zu stillen. Der Andrang ist aber zu hoch um zwischen dem Sandwich schmieren ein Schwätzchen halten zu können. Gleiches gilt für unserer Braderien (Kleidungsverkäufe) wir helfen zwar den Leuten sehr günstig an gute Kleidung zu kommen, das Klima ist aber Supermarkt. Die Kleidermengen sind einfach zu enorm um den Rahmen kleiner zu halten. Bei dem Empfang der Obdachlosen in unserem Gemeindefoyer fehlt es uns eigentlich an allem. Wir haben nicht genug Essen und die Kleiderreste der Braderie reichen nicht aus oder sind dreckiger als die Klamotten der Klienten. Dann spielen wir noch Scrabble. Aber wir schauen nicht, welche Ressourcen wir stattdessen einsetzten können. Wo wir vielleicht vielmehr helfen könnten. Denn neben materiellen Ressourcen steht jedem von uns ein Haufen personeller Ressourcen zur Verfügung, die wir übers Scrabble spielen hinaus einsetzen und dadurch persönlicher werden könnten.
Normalerweise, so sagte mir mein Pastor neulich, ist das Problem bei armen Leuten ihre Krankheit. Ihre Depressionen und Süchte, die meist einen familiären Hintergrund haben, behindern sie, klar zu denken und zu sparsamen Konsummustern sowie gesellschaftlichem Benehmen zurück zu finden. Im Klartext: die Lösung des Problems liegt oft gar nicht im Materiellen. Sondern vielmehr in Beraten & Beglücken. Es gibt viele Klienten, die ein ausreichendes Geld vom Staat bekommen aber aus fehlendem Wissen oder mangelnder Kraft damit nicht haushalten können. Resto du Coeur ist unabdingbar, da nun mal eine Sättigung ein wichtiges Grundbedürfnis darstellt. Dennoch ist es damit längst nicht getan. Eine wichtige Rolle in Frankreich spielen Sozialarbeiter. Sie schauen sich mit dem Klienten die Finanzen an oder leiten ihn an alle möglichen Anlaufstellen von Kleidung bis zu Jobs weiter. Leider sind deren Leitungen meist besetzt und die Posten unterbesetzt, aber die Beratung ist maßgeschneidert Person für Person.
Beglücken tut das Centre regelmäßig mit seinen Konzerten und Events wie das Suppenfest. Auch wenn ich diese Kategorie zunächst für zweitrangig gehalten habe, da die essentiellen Dinge höhere Priorität haben, so wird mir doch die Bedeutung der Veranstaltungen mehr und mehr bewusst. Zu den Veranstaltungen kommen ehrlich gesagt selten Obdachlose. Neulich ist ein Klient vom wöchentlichen Empfang gekommen, dem wir zuvor für diesen Anlass einen Sakko geschenkt haben. Die Zielgruppe dieser Veranstaltungen sind alle, die ein bisschen Ablenkung ihres Alltags, ihrer Gedanken und Sorgen haben wollen und etwas Gemeinschaft suchen. Wahrscheinlich sind zu dieser Zeit auch viele Hilfsbedürftige beschäftigt, ein Nachtquartier zu suchen, aber ich glaube Beglücken sollte ein größerer Schwerpunkt sein und als Weg hervorgehoben werden, um eine gute Obdachlosenarbeit zu leisten. Letzten Montag kam zu unserem Obdachlosenempfang ein ehemaliger Flötist des Orchestre de Paris. Für mich war dies eine riesige Ehre. Er hat uns ein kleines Konzert gegeben, von Peter und der Wolf bis zu Mozart. Ich glaube die Klienten hat das relativ wenig interessiert, vielleicht mögen sie einfach keine Flöte.
In dem Gedränge und Bemängel ist es schwer immer gute Miene zu halten und auch noch ein aufmunterndes Wort zu finden. Es ist leicht, einen Haufen Sandwiches zu schmieren oder Hosen zu stapeln. Aber diese ungreifbare Ebene, die auf eine viel entferntere Absicht abzielt, den Klienten zu ermuntern und zu ermutigen, die müssen wir alle nochmal ganz neu lernen. Denn wer soll sie ermutigen wenn nicht wir. Einer unserer Klienten kommt seit Jahren fast jeden Montag zu unserem Empfang. Er hat bestimmt schon 100 Hosen von uns bekommen aber geben sie ihm die Motivation sich zu waschen, zu kochen oder Arbeit zu suchen?
Im Übrigen:
Am 6. April hat der klassische Chor, den ich seit der zweiten Woche in Frankreich besuche, ein tolles Konzert gegeben. In Vorbereitung auf Ostern haben wir „Die 7 letzten Worte Jesu am Kreuze“ von Hadyn aufgeführt und Standing Ovations geerntet. Wir haben uns Monate mit dem Werk herum gequält weil es für Amateure wie wir wirklich schwer zu singen ist. Ich hatte nicht nur Schwierigkeiten mit den Noten, sondern auch mit dem Stück an sich. Es erklärt sich nicht beim ersten hören. Einmal verstanden gehört es aber zu den schönsten Errungenschaften der Musikgeschichte. Die Texte und Melodien sind unglaublich wertvoll und geistreich, sodass es am Ende eine große Entdeckung für mich war. Der Dirigent wollte das Konzert eigentlich absagen, weil wir uns lächerlich machen würden. Am Ende haben wir aber mit dem Orchester und den Solisten eine gute Aufführung abgeliefert, die für uns alle ein erinnerungswürdiges Erlebnis war.



Eine Woche später bin ich dann mit allen Pfadfindern unseres Stammes für vier Tage auf ein Camp gefahren. Nur eine Stunde von Paris entfernt gibt es einen Wald für Pfadfinder mit vorbereiteten Baumstämmen zum Bauen, Toiletten und einer Bäckerei.
Wir waren um die 70 Leute und haben unter strahlender Sonne Tische gebaut, Feuer gemacht und gespielt. Die Kinder und Jugendlichen bereiten mir sehr viel Freude und es ist immer sehr lustig mit ihnen.





Letzte Woche habe ich dann mit Christoph die Mitfreiwillige Johanna in Grenoble (Partnerstadt von Essen) besucht. Wenn die Verschmutzung auch die gleiche ist, so haben wir natürlich einen absoluten Kontrast zu Paris erlebt. Berge und Wiesen so weit das Auge reicht! Wir haben eine ganz tolle Zeit gehabt!
Ansonsten ist hier noch sehr viel in Vorbereitung, dessen Ergebnisse ich erst beim nächsten Rundbrief entlüften kann.



Bis dahin, alles Gute!
Euer Gabriel



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